Wie die Deutschen ihre Zukunft sehen
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Kennen wir uns selbst? Wissen wir, was wir wollen und was wir nachfolgenden Generationen mitgeben würden? In welchem Verhältnis stehen für uns Beruf und Privates, persönliche Erfüllung und materieller Wohlstand? Diese und weitere Fragen sind Thema der großen Vermächtnisstudie, die DIE ZEIT, das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) und Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) vor zwei Jahren gemeinsam initiiert und finanziert haben. Im Rahmen des Studium Generale der Hochschule Pforzheim hat Doris Hess am Mittwoch, 21. November 2018, in ihrem Vortrag „Das Land, in dem wir leben wollen: Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen“ über die Studie gesprochen. Hess leitet am infas den Geschäftsbereich Sozialforschung und war für die Studie verantwortlich. Rund 500 Zuhörer lauschten im bis auf den letzten Platz gefüllten Audimax sowie im „Aquarium“ ihren Ausführungen.
„Wir wollten wissen, welche Stimmung im Land herrscht. Uns interessierte, in welcher Welt wir leben, welche Empfindungen und Meinungen Menschen haben und welche Werte wichtig sind“, erklärte Doris Hess. „Da es aber bereits viele Studien dieser Art gibt, war uns das zu wenig. Das Besondere sei, wie es weitergeht, was die Menschen nachfolgenden Generationen weitergeben wollen. Wir wollten wissen, wie die Gesellschaft in Zukunft gestaltet sein soll und wie sie tatsächlich sein wird“, so Hess. An den persönlichen Interviews der repräsentativen Studie nahmen mehr als 3000 Personen zwischen 14 und 80 Jahren aus allen Bereichen der Gesellschaft teil. Aktuell ist die vierte Welle der Befragung abgeschlossen. „Leider kann ich ihnen nicht alle Ergebnisse vorstellen. Ich habe aber einige ausgesucht, die die wichtigsten Werte der Gesellschaft repräsentieren“, erklärte die Sozialforscherin.
Ein zentrales Thema der Studie sei das Wir-Gefühl, wie wir es momentan empfänden, wie es in Zukunft sein sollte und wie es werden würde. „Für Jung und Alt ist das Wir-Gefühl extrem wichtig. Gehören für junge Menschen vor allem Freunde dazu, zählt für die ältere Generation eher die Familie. Aber auch die Nachbarschaft, das eigene Heimatland tragen zu diesem Gefühl bei. Allerdings sehen die Befragten für die Zukunft einen schlechteren Zusammenhalt, als es ihn heute gibt“, gab Hess an. Die Umfrage konnte, so Hess, auch klären, ob Minderheiten dazugehörten. Auf einen hohen zweistelligen Prozentsatz treffe diese Aussage zu. „Dieses wunderbare Ergebnis hätten wir nicht erwartet. Im Kern sind wir eine offene und tolerante Gesellschaft, wenn natürlich auch nicht überall.“ Zum Wir-Gefühl trage zudem das Zuhause als Ort der Beständigkeit bei. Für die Befragten ist demnach das Wohneigentum ein großes Gut. Allerdings sei bereits heute abzusehen, dass viele sich in Zukunft keine Wohnung mehr leisten können. „In diesem Punkt schaut die Bevölkerung skeptisch in die Zukunft“, sagte Doris Hess.
„Was wäre das Leben ohne Liebe?“, fragte Doris Hess ins Audimax der Hochschule. In der Vergangenheit sei Heirat ein essenzielles Element gewesen, um eine Familie zu gründen. „Hochzeiten verlieren in Zukunft an Bedeutung – Partnerschaften wird es aber weiterhin geben, denn schon heute leben wir in unterschiedlichen Gemeinschaften“, so Doris Hess. „Es wird aber voraussichtlich weniger Kinder geben.“ Es gab zudem die Frage, wie wichtig es den Menschen ist, beruflich aufzusteigen. Im Zuge der Digitalisierung wird sich die Arbeitswelt ändern und Sorgen und Ängste zunehmen. Die befragten Menschen fürchten um ihre Arbeitsplätze und ihr Wohneigentum“, skizzierte Hess ein eher düsteres Zukunftsszenario. Allerdings sähen sich viele auch in der der Lage, sich neuen Umständen anzupassen.
Bestandteil der Umfrage waren auch die Sinne, die mit Düften, Materialien und Rhythmen angesprochen wurden. Wie fühlt und riecht Deutschland, wie fühlt und riecht die Zukunft? „So etwas gab es noch nie und es war nicht einfach, entsprechende Stoffe zu identifizieren, mit denen wir ein Lebensgefühl darstellen können“, verdeutlichte Doris Hess diesen Einsatz. Wertet man die Ergebnisse aus, riecht die Gegenwart nach frischem Zitrusduft und fühlt sich wie Watte an. Sie vermittelt ein entspanntes Wohlgefühl. Die Zukunft aber riecht nach beißendem Leder und wirkt wie kratziges Schmirgelpapier. Doris Hess versuchte zu erklären, warum viele der Befragten die Zukunft derart negativ sehen: „Wir sind heute weit oben in der Gesellschaft angekommen und befürchten, dass wir diesen Besitz verlieren. Das kann aber auch bewirken, dass immaterielle gegenüber materiellen Werten wichtiger werden“, blickte Doris Hess positiv in die Zukunft der Deutschen, bevor sie mit dem Publikum des Studium Generale in die Diskussion ging.
Das Studium Generale beschließt das Wintersemester am 05. Dezember 2018 mit dem Hirnforscher und Neurobiologen Professor Dr. Martin Korte. Der Titel des jüngsten Buches ist auch der Vortragstitel: „Wir sind Gedächtnis: Wie unsere Erfahrungen bestimmen, wer wir sind.“