Nachklang: Spieletagung Homo faber Ludens
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„Los, spielt endlich!“
Donnerstag, 5. Mai, in der Aula der Holzgartenstraße: Die Kulturanthropologin Anne Dippel legt einen roten Wollfaden als Sinnbild ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse auf der Bühne aus. Derselbe Ort, sechs Stunden später: Der Performance-Künstler Jonathan Meese blättert scheinbar suchend in einer losen Sammlung von Zetteln, die sich vom Rednerpult bis auf den Boden erstreckt.
In diesen beiden Materialien und Handlungen manifestiert sich die Spannweite des Tagungstitels „Homo faber ludens“: hier die Wissenschaftlerin, die die Figur des Homo faber verkörpern mag und systematisch ihre Suche nach Erkenntnis darlegt. Dort der Typus des Künstlers, des Homo ludens, der sich spielend die Welt aneignet und den postjuvenilen Delinquenten repräsentiert. Doch der Schein der Gegensätzlichkeit trügt. Wissenschaft und Kunst, Arbeit und Spiel bilden eine Gemengelage.
Überlagerungen von Arbeit und Spiel beschäftigen die Kulturanthropologin Anne Dippel spätestens seit sie an der Europäischen Organisation für Kernforschung „CERN“ in Genf forschte und dort inmitten der hochprofessionellen und ernsthaften Atmosphäre der Wissenschaftlichkeit auf einem Schreibtisch eine Gummiente entdeckte. Diesem Fund folgten weitere Zeichen des Ludischen. Und so konnte Anne Dippel nicht nur mittels ethnografischer Feldforschung in den Laboren der Hochenergiephysik zeigen, welche Rolle Materialität und Zeitlichkeit in der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion spielen, sondern ebenso die Rolle des Spiels herausarbeiten. Das CERN stellte sich ihr als ein Feld dar, das alle Elemente und Strukturen des Spiels in sich trägt.
Spielen als Modus der Vergemeinschaftung wird kulturübergreifend verstanden, so Natascha Adamowsky (Passau). Die Kultur- und Medienwissenschaftlerin interessiert sich für Spielmittel und füllt mit ihrer Fokussierung auf das Material Sand eine kulturwissenschaftliche Leerstelle. Sand, so Adamowsky, verdecke nicht den Blick auf seine reine Materialität. Vom Sand führt Adamowsky die Zuhörerschaft zu den öffentlichen Spielplätzen für Kinder, die als signifikante Räume moderner Urbanität bislang weitgehend unterbeachtet sind. Spielplätze repräsentierten aktuelle Erwartungen und seien als Ausdrucksformen von Kultur zu befragen.
Vom Spielplatz in die Kunstwelt führt Larissa Kikol (Marseille) mit ihrem Vortrag „Tollste Kunst – Kunst spielen“, der sich dem Kindlichen und mitunter Kindischen in der Kunst annimmt. Der Erwachsene sei das bessere Kind und die Kunst die bessere Kindheit, so ihre Thesen. Kikol versteht beispielsweise die tollkühnen Entwürfe des berühmten Architekten Frank O. Gehry als optimierte Kindheit, da sie nicht nur Luftschlösser und Gedankenspiel bleiben müssen, sondern tatsächlich realisiert werden. Scheinbar banale Kritzeleien und naive Sujets in Malerei, Plastik und Performance zeigen, dass das innere Kind nach außen gekehrt werden darf und die Kunst einmal mehr Entgrenzungen fördert.
Ein Repräsentant dieses künstlerischen Spiels ist Jonathan Meese. Als Zäsur zwischen den wissenschaftlichen Vorträgen am Donnerstag und Freitag lässt sich seine abendliche „Lecture Performance“ beschreiben. Meese wird oft als Querulant der deutschen Kunstszene tituliert und sei der „wahrscheinlich radikalste Spielkünstler“, wie Larissa Kikol in der Zeitschrift „Kunstforum International“ schreibt. Seine Arbeiten reichen von Malerei, Zeichnung, Graphik, Skulptur, Performances bis hin zu Theater- und Operninszenierungen, und Meese gilt als einer der wichtigsten Gegenwartskünstler. In einer schwarzen Adidas-Trainingsjacke und Sonnenbrille betritt er die Bühne. Spielerisch persifliert er den Gestus eines ernsthaft bemühten Redners und präsentiert dann in gewohnter Manifest-Manier eine verbale Assemblage zum Spielerischen in der Kunst. Seine Formel: Kunst = Spiel. Mit emphatischen Worten umkreist er gleichsam in mehreren Spielrunden seine Gegner – allen voran Realpolitik und Religionen – und fegt sie sodann vom Tisch wie ein wütender Spieler den Spielaufbau selbst. Tabula rasa der Räson. In schachbrettartiger Eindeutigkeit zeichnet Meese eine dualistische Welt: „Du spielst oder nicht. Du machst Kunst oder nicht.“ Nichtkunst ist alles, was Regelwerke vorgibt, Ideologien aufstellt, Machtgefälle produziert – und ist daher abzulehnen. Und Kunst als radikaler Gegenentwurf zur soziokulturellen Wirklichkeit. Doch die Gleichung geht nicht auf. Denn die Vorstellung vom Ende jeder Ideologie ist eine ideologische Vorstellung par excellence, wie der Meese-Kenner Robert Eikmeyer in seinem eigenen Vortrag bemerkt. Meese zeichnet keine Zukunft, auch keine utopische; vielmehr spricht er Setzungen in die Gegenwart hinein. Spätestens seit der großen Werkschau Mama Johnny 2006 propagiert er die ‚Diktatur der Kunst‘ mit seinem Imperativ „Los, spielt endlich!“. Das Leben soll sich verschieben ins Künstlerische, ins Spielerische – wider das Streben, wider das Erhabene. Am Ende sammelt Meeses Mutter die Zettelsammlung in einer Stofftasche ein.
Den Gesellschaftsspielen als einer weiteren Facette des Spiels widmeten sich Valentin Köberlein und Steffen Bogen (beide Konstanz) in ihren Vorträgen. Steffen Bogen, Kunstwissenschaftler und Spielentwickler, stellte die beiden meistverkauften Brettspiele „Catan“ und „Monopoly“ in den Mittelpunkt. Mit ihrer Spiellogik und ihren Themen Rohstoffe bzw. Kapital könnten sie als Repräsentanten einer klassisch kapitalistischen Ordnung (Monopoly) und einer neoliberalen Wirtschaftsordnung (Catan) gelten, wie später Robert Eikmeyer kommentierte. Steffen Bogen interessiert nicht das immergleiche Material dieser Spiele, sondern die je unterschiedlichen Spielsituationen, die mit diesem geschaffen werden können. Ein gutes Game Design würde ein Feuerwerk an Erlebnissen entfachen, weil es den Zufall zulasse – und ihn nicht wie in anderen Bereichen zu eliminieren versuche. Zufall begreift Bogen als Entanglement, als Verschränkung durch die Teilnehmenden, die ihre Eigenschaften im Spielverlauf regulieren können. Er gab Einblicke in sein zu finalisierendes Buchprojekt zur Aleatorik im Spiel. Hier unterscheidet er das Kontingente vom Arbiträren. Kontingenz beziehe sich auf Partieverläufe, in denen etwas passiert, was möglich war, ohne notwendig zu sein, bspw. die Würfelsumme „5“. Arbitrarität sei dagegen die Schwankungsbreite. Steffen Bogen interessiert auch, wie er Spieler ermächtigen kann, selbst im Spiel über das Spieldesign nachzudenken und neue Regeln zu entwickeln.
Das Spiel ist, so zeigen die profunden Vorträge allesamt, nichts weniger als eine conditio humana. Nicht erst seit Friedrich Schillers berühmtem Diktum – „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ – ist die kulturelle und soziale Bedeutsamkeit des Spiel(en)s weithin anerkannt. Und länger schon werden in Feldern wie Ökonomie, Politik, Ingenieur- oder Naturwissenschaften Theorien und Praktiken des Spiel(en)s gedacht und angewandt.
Mit dem Gesellschaftsspiel des künstlerischen Manifests und der manifesten Kunstform des Gesellschaftsspiels ist die Bandbreite der Tagung umrissen, so Thomas Hensel. Er selbst referiert in seinem kunstwissenschaftlich konturierten Beitrag „Ars simia natura. Martin Gerlachs Äffchen“ auch über die Lehrmittelsammlung der Kunstgewerbeschule Pforzheim, die wiederentdeckt wurde und als historischer Spielraum den Anlass zur Tagung gab.
Den zweiten Anlass bot der neu eingerichtete und übergreifende Creative Space als aktueller Spielraum. Verbinden lässt sich die Tagung auch mit der bild- und medienwissenschaftlichen Forschung zum Computerspiel am Lehrstuhl für Kunst- und Designtheorie sowie mit der Übersichtsschau BAU [ SPIEL ] HAUS (2019), kuratiert von Thomas Hensel und Robert Eikmeyer, die die materiale und mediale Fülle des Wortsinns Spiel kumuliert zeigte: Bauhaus-Objekte trafen auf Friedrich Fröbels Spielgaben, LEGO- Bausteine auf Minecraft.
Die Tagung bildet den Auftakt einer mehrteiligen Veranstaltungsreihe, die zukunftweisende Entwicklungen spielerischer Kreativität und innovativen Spiel(en)s beleuchtet.
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Text: Tabea Schmid