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China-Experte Frank Sieren im Studium Generale über den Aufstieg des Reichs der Mitte

Die wissenschaftlichen Leiterinnen des Studium Generale, Prof. Dr. Nadine Walter (links) und Prof. Dr. Frauke Sander, sowie Rektor Prof. Dr. Ulrich Jautz (r.) freuten sich, dass Frank Sierens Vortrag auf so großes Interesse stieß. Foto: Cornelia Kamper / Hochschule Pforzheim

„Es vergeht kaum ein Tag in der politischen Debatte, an dem China kein Thema ist“, sagt Professorin Dr. Nadine Walter zur Einführung des Studium Generale am Mittwochabend im Audimax der Hochschule Pforzheim. Deshalb ist das Interesse groß am Thema von Frank Sierens Vortrag, dem nicht nur rund 400 Gäste im Audimax sondern noch weitere 200 im Livestream folgen. Unter der Überschrift „Supermacht China: Unaufhaltsamer Aufsteiger oder Koloss auf tönernen Füßen?“ skizziert Sieren mit pointierten Ausflügen in die Geschichte Chinas dessen Entwicklung und was diese für die westlichen Gesellschaften und Wirtschaftssysteme bedeutet.

Sieren, der als einer der „führenden deutschen China-Spezialisten“ gilt (Die ZEIT), lebt seit fast 30 Jahren in Peking und hat zahlreiche Bestseller über China geschrieben. Außerdem sagt man über ihn, er sei einer der ganz wenigen in Deutschland, die den Aufstieg Chinas realistisch evaluieren und früh davor gewarnt haben, China nicht zu unterschätzen. Das stellt der Journalist und Autor eindrucksvoll im Walter-Witzenmann-Hörsaal der Hochschule unter Beweis.  Er sieht die Welt mit drei großen Herausforderungen konfrontiert: Der Bewältigung des Klimawandels, der Digitalisierung und einer Welt im Wandel, an dessen Ende eine neue Weltordnung stehen könnte. Und damit schlägt er die Brücke zum Reich der Mitte. „Der Begriff `Epochaler Wandel´ wird zwar inflationär benutzt, aber in Bezug auf China stimmt er einfach“, sagt Sieren und verweist auf die rasante Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Wie schnell eine neue Weltordnung eintreten kann, zeigt er am Beispiel der Nachkriegszeit. Die Konferenz von Bretton Woods habe in den USA und nicht in Großbritannien stattgefunden, weil das ehemals ein Viertel der Welt regierende United Kingdom als British Empire nur noch Gast am Tisch, aber nicht mehr Gastgeber gewesen sei. Aktuell verschiebe sich dies weiter. „Großen und mächtigen Ländern wie China oder Indien erscheint es fragwürdig, warum beispielsweise Großbritannien Mitglied der G7 ist.“

Es ende die Zeit, in der die Minderheit des Westens die Spielregeln für die Mehrheit der Welt bestimmt. „Das hängt mit China und dessen Wiederaufstieg zusammen. Vor 200 Jahren war China schon einmal Weltmacht, das Reich der Mitte, das 30 Prozent der globalen Wirtschaftskraft besaß. Doch mit dem Erfolg kam der Hochmut, so dass China die industrielle Revolution, die im 19. Jahrhundert in Europa stattfand, nicht mitbekommen und verschlafen hat. Dann kam der Fall. Opium, Handelsbilanzdefizit. Drogenprobleme“, erklärt Sieren. Krisen häuften sich, Aufstände und Bürgerkriege drohten, das Land zu zersetzen. Das Kaiserreich war am Ende. „Mao war es, der mit viel Brutalität China zu einen. Allein von Wirtschaft hatte er keine Ahnung. Nach Maos Tod war China zwar geeint, aber wirtschaftlich und außenpolitisch schwach. Sein Nachfolger erkannte, dass man sich vom Kapitalismus helfen lassen könnte. Obwohl das doch der Klassenfeind war.“

Aus zarten Anfängen und der Idee der Sonderwirtschaftszonen (die stammte übrigens von Xi-Jinpings Vater) wurde eine Erfolgsgeschichte. Zunächst im Austausch mit Hong-Kong, dann mit dem westlichen Ausland. Die 80er Jahre seien dann eine Zeit der Euphorie gewesen, weil sich China weiterentwickelte, „obwohl die Politiker dieser Zeit keine Ahnung von Wirtschaft hatten“, wie Sieren bemerkt. „Es lief ja, also kein Grund das alles zu hinterfragen, obwohl es ein Handelsbilanzdefizit gab. Die Produkte hatten noch nicht die Qualität, um auf dem Weltmarkt erfolgreich zu sein.“ Jedoch sei die Wirtschaft Ende der 80er-Jahre geschrumpft, es gab Massendemos, die aufkeimende Freiheitsbewegung im streng kommunistischen China, die blutig `89 niedergeschlagen wurde. Das Entwicklungsmodell kam zum Stillstand, das Land war im Schock. „Der Westen jedoch unterstützte die Öffnung im Land weiter, so dass mehr Unternehmen dort investierten. Volkswagen war etwa schon seit 1984 als eine der ersten Firmen dort und hat das Modell Santana in China gebaut. Das Land wurde mehr und mehr zur Fabrik der Welt, der Anteil an der Weltwirtschaft stieg langsam an. Günstige Qualität war das Erfolgsrezept“, so Sieren. Mit dem Erfolg entstand eine Mittelschicht und die Armut nahm ab. Damit stiegen aber auch die Kosten der Produktion. „Hierzulande ging man davon aus, dass die Erfindungen weiter bei uns stattfinden, aber günstig in China produziert werden können. Das sehen wir aktuell beim Thema E-Mobilität sehr gut, dass sich das geändert hat.“ 

Es sei ein „entscheidender Denkfehler“, sich nie in den Blickwinkel und die Vergangenheit Chinas hineinversetzt zu haben, so Sieren weiter. „China wollte nicht die Fabrik der Welt sein, das war nicht ihr Niveau, sondern wieder ganz nach oben. Also Richtung der früheren 30 Prozent Anteil an der Weltwirtschaft. Dazu führt nur ein Weg: Wieder innovativ zu sein.“ Im Westen habe man lange Zeit gedacht, der Chinese könne nicht innovativ sein, sondern nur abkupfern, sagt Frank Sieren. Das beste Beispiel sei der Verbrenner-Motor gewesen. Statt daran zu verzweifeln habe China einfach einen Schritt übersprungen und sich stattdessen bereits früh an das Thema Elektromobilität und Batterieforschung gewagt. „China kann also doch innovativ – und jetzt merken das alle“, sagt Sieren. Die neuen Regeln im Weltmarkt der Automobilwirtschaft würden von China bestimmt. Und nicht nur von den Chinesen. „Die BRICS-Staaten haben allesamt aufgeholt. Und so verändert sich nicht nur die Industrie, sondern die ganze Weltordnung. Früher waren wir in Denkmustern verhaftet, in denen Demokratien gegen Autokratien die Welteinteilung bestimmten. Heute heißt es: Etablierte Wirtschaftsnationen gegen Aufsteiger“, betont er. Als Beispiele nennt er, dass der Einfluss der BRICS-Staaten gegenüber den G7 immer größer werde und diese auch daran arbeiten, eine Alternative zum US-Dollar als Leitwährung mit Gegengewicht zu entwickeln.

Im Westen sei das Thema Menschenrechtsverletzungen sehr viel diskutiert und einer der Kritikpunkte an China. Gleichzeitig werde das Miteinander wichtig, weil man China brauche. Ein Zwiespalt. „Wie es um die Werte bestellt ist, sieht man daran, dass sich 170 von 192 Ländern nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligen. Der Westen muss mehr gute Gründe anführen, seine Interessen zu platzieren, als früher“, so Sieren. Man kämpfe jetzt um seinen Platz. „Es bringt nichts, auf den Schwächen der Chinesen herumzuhacken und die Erfolge nicht zu sehen. Das kann ich nach 30 Jahren in China sagen.“ Kein Land der Welt habe in so kurzer Zeit so viele Menschen aus der Armut geholt. Die Verwaltung und Infrastruktur funktionierten dort, das müsse man anerkennen. Zwar sei China größter Verschmutzer, aber auch Weltmeister der innovativsten Umwelttechnologien. Sätze wie seitens der Bundesregierung, dass hinter jedem Chinesen die KP stehe, seien aus Sierens Sicht nicht hilfreich.

„Vor drei Wochen wurden autonom fliegende Personendrohnen für den Alltag zugelassen. Das ist uns einfach voraus. Hat hierzulande kaum jemand wahrgenommen, ist aber ein unglaublicher Schritt. Autonomes Fliegen ist, das haben mir Ingenieure bestätigt, viel einfacher zu realisieren als Autonomes Fahren, weil viel weniger Hindernisse in der Luft sind. Unsere Enkel werden uns fragen: Was? Ihr seid selbst gefahren? In China ist man da weiter als hier“, sagt Sieren.

„Wo steht China?“, will ein Zuschauer wissen. „Ist es denn nun ein Koloss auf tönernen Füßen?“ Worauf Sieren mit ein paar Zahlen zum Abschluss die Antwort gibt:

„China hat keine nennenswerte Auslandsverschuldung, keine hohe Inflation. Ein Koloss auf tönernen Füßen, der ziemlich stabil ist. Zum Vergleich: China wird mit 5,4 Prozent wachsen, Europa mit 0,7 Prozent“, so Sieren. Das Pro-Kopf-Einkommen sei etwa auf Höhe Bulgariens, also noch mit Wachstumspotenzial und noch nicht am Zenit angekommen. Und natürlich auch mit Problemen, etwa der Jugendarbeitslosigkeit von rund 20 Prozent. „Aber, und das ist ein großer Unterschied zum Westen: Die Gründe sind konjunkturell, das heißt, in zwei bis drei Jahren wird die Jugendarbeitslosigkeit verringert.“ In der EU hingegen sei sie strukturell und in Gegenden wie den Banlieues von Paris kaum überwindbar. Es gehe nur mit China, beendet Sieren seinen vielbeachteten und mit vielen Details gespickten Vortrag.

Das Studium Generale setzt sein Programm am Mittwoch, 6. Dezember, fort. Zum Abschluss des Wintersemesters 2023/24 begrüßen die wissenschaftlichen Leiterinnen Professorin Dr. Frauke Sander und Professorin Dr. Nadine Walter ihren Kollegen Professor Dr. Hanno Beck, Volkswirt an der Hochschule Pforzheim, mit seinem Vortrag „Glück – Was im Leben wirklich zählt“.